Der Komplexitätsfalle entkommen: Handlungsfähigkeit als Schlüssel für Erfolg trotz steigender Komplexität

Um auch in Zukunft erfolgreich und relevant zu bleiben, müssen Unternehmen die Fähigkeiten entwickeln, agil und strategisch reaktionsfähig Veränderungen in Markt und Gesellschaft nachzuvollziehen; besser: diese zu antizipieren. Damit können Unternehmen die Herausforderungen aus dem dramatischen Wandel unserer Zeit nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Chance begreifen und für Wachstum in neue Geschäftsfelder nutzen. Notwendig ist dafür jedoch eine veränderte Art der Führung, die eine höhere Toleranz für und einen besseren Umgang mit Unsicherheit und Komplexität zum Ziel hat: Die Fähigkeit, unter Unsicherheit zu entscheiden und in Komplexität handlungsfähig zu bleiben wird damit eine der Schlüsselkompetenzen der neuen Zeit.

Was genau bedeutet Komplexität im Management?

Die folgende Abbildung zeigt dazu eine (technische) Definition von Komplexität, die als Basis für ein tieferes Verständnis dieses Sachverhaltes dienen kann.

Die x-Achse der Abbildung beschreibt als „Kompliziertheit" die Anzahl der Schnittstellen im System oder in Organisationen beispielsweise die Anzahl der Menschen oder die Anzahl der organisatorischen Teileinheiten.

Die y-Achse der Abbildung als zweite, unabhängige Dimension von Komplexität beschreibt die „Dynamik" des Systems als Volatilität (Stärke der Ausschläge) und / oder Frequenz (Veränderungsrate, d. h. wie viele Veränderungen erfolgen pro Zeiteinheit?) der Veränderung. Komplexität also zunächst mal das Produkt aus Kompliziertheit und Dynamik.

Unten links (wenig dynamisch, wenig kompliziert) ist nun der Zustand, der am angenehmsten sein dürfte – Stabilität.

Komplizierte Projekte versus dynamische Krisen

Unten rechts (sehr kompliziert, wenig dynamisch) ist eine „klassische" Managementaufgabe, für die Managementlehre gut ausbildet. Ein Beispiel dafür ist ein sehr kompliziertes Projekt: „Apollo", die Mondlandung. Als J. F. Kennedy 1962 mit seinen berühmten Worten „We choose to go to the moon" verkündete, Amerika würde noch in derselben Dekade den Mond betreten, startete er unzweifelhaft ein sehr kompliziertes Projekt, an dem viele, viele Menschen und beteiligt waren. Aber die Dynamik war relativ gering: Mond und Erde laufen auf stabilen Bahnen und das Ziel (einen Menschen auf den Mond zu bringen) wurde während des Projekts nie geändert. Zusätzlich hatte Kennedy ein Zieldreieck vorgegeben mit festem Ziel (Mondlandung), breitem Zeitkorridor (in diesem Jahrzehnt) und nahezu unbegrenztem Budget. Ein solches Projekt lässt sich planerisch gut fassen. Es kann in granulare Arbeitspakete zerlegt und dann Stück für Stück abgearbeitet werden. So folgte die erste Mondlandung am 16. Juli 1969.

Oben links (sehr dynamisch, wenig kompliziert) ist eine Situation, die sich dramatisch verändert und daher nach Vereinfachung verlangt, beispielsweise eine Krise. Ein Beispiel ist die Notlandung von C. B. Sullenberger auf dem Hudson River: Kurz nach dem Start traf seine vollbesetzte Maschine in nur 975 m Höhe auf einen Schwarm Gänse. Die Kollision führte zum Ausfall beider Triebwerke, die Maschine ging mitten über New York in den antriebslosen Sinkflug. Die Frage: Wo landen? Während Sullenberger über diese Frage nachdachte, verlor die Maschine an Höhe, an Geschwindigkeit, veränderten sich Wind und das überflogene Stadtgebiet – veränderte sich mit jeder kleinen Bewegung am Steuerknüppel sein Optionenraum zur Entscheidung. Das ist eine Krise. Hier bleibt für planerisches Vorgehen keine Zeit, stattdessen gilt es zu vereinfachen, die Situation auf einfache Entscheidungsfragen zu reduzieren und (wahrscheinlich) ungeeignete Entscheidungsoptionen möglichst schnell zu verwerfen – um in einem verkleinerten Optionenraum eine Entscheidungsoption zu wählen und diese schnell auszuführen. Sullenberger verwarf in dem Sinne die Reaktion nach Standardprotokoll (Notlandung auf La Guardia) und beschloss 40 Sekunden nach dem Vogelschlag, auf dem Hudson River notzuwassern, ebenfalls ohne Checkliste, da ihm nur noch drei Minuten verblieben.

In Komplexität hilft weder Projekt- noch Krisenmanagement

Oben rechts, sehr dynamisch und sehr kompliziert, ist jedoch das gänzlich anders, denn diese Herausforderung ist nicht kompliziert, ist keine Krise, sondern komplex: Ein hoch kompliziertes System ändert sich hochdynamisch. Weder das planerische Handeln des Projektmanagements noch die Vereinfachung und Fokussierung des Krisenmanagements führen hier zu guten Ergebnissen.
Wendet man in einem komplexen Kontext Methoden des Projektmanagements an, geht man den komplexen Kontext also planerisch an, verändern sich in der Planungsphase die Planungshypothesen. Dies führt entweder in einen schier unendlichen Planungszyklus oder zu einer Planung, die, einmal erstellt, gleich wieder obsolet wird.

Wendet man im komplexen Kontext hingegen Methoden des Krisenmanagements an, geht ihn also durch Vereinfachung an, konzentriert man sich nur auf einen oder wenige Einzelaspekte, um Handlungsfähigkeit herzustellen. Dabei übersieht man die vielfältigen Abhängigkeiten des komplizierten Systems und erzeugt dadurch (unbewusst) erhebliche Fehler- bzw. Folgekosten.
Komplexität zu managen braucht daher einen dritten, einen anderen Weg. Dieser dritte Weg verlangt von Organisation und Individuum in einen explorativen Modus überzugehen. Dieser zielt darauf ab, den komplexen Kontext durch erkundendes Handeln zu erforschen, durch dieses Handeln neues Wissen zu generieren, daraufhin das eigene Handeln agil anzupassen und zu verändern und mit diesem neuen Wissen die Unsicherheit zu reduzieren, so dass man im Ergebnis wieder entscheidungsfähiger wird.

Handlungs- und Lernorientierung als Schlüssel

Dieses Vorgehen stärkt die Rolle der Intuition (gegenüber Planung), unterstützt Handlungsorientierung und baut wesentlich auf Lernorientierung und Lernfähigkeit sowie Fehlertoleranz auf. Im Ergebnis ersetzen zielgerichtete Trial-and-Error-Methoden den im komplexen Raum untauglichen Versuch der Vorhersage und Prognose. Dieses eher adaptive als planerische Vorgehen wird auch als Methode der „intelligenten Fehler" beschrieben. Wesentlicher Grundgedanke ist hier die Abkehr von der Optimierung der Erfolgswahrscheinlichkeit:
Bei der Beurteilung von Projekten wird meist das Chancen-Risiko-Verhältnis analysiert. Chancen sind, was gewonnen werden kann, wenn das Projekt erfolgreich ist. Risiken sind, was verloren geht, wenn das Projekt scheitert. Davon ausgehend versuchen wir meistens Chancen zu maximieren und das Risiko zu minimieren, idealerweise zu eliminieren. Im komplexen Raum lassen sich jedoch Chancen kaum abschätzen, denn es herrscht Unsicherheit (zu unterscheiden von Risiko). Die „klassische" Chancen-Risiko-Abwägung führt also leicht in die Irre und häufig zu sehr risikoaversem Handeln – im Ergebnis zur Strategie des „Abwartens" und damit wird mit hoher Wahrscheinlichkeit das Window of Opportunity im Markt verpasst.

Die verständliche Neigung zum Abwarten wird dadurch verstärkt, dass die Bewertung von Handlungsalternativen häufig davon ausgeht, Nicht-Handeln sei nicht schädlich (beispielsweise bewertet die Kapitalwertmethode in der Investitionsbeurteilung Nicht-Handeln mit einem Kapitalwert von „0"). Im komplexen Raum jedoch, wenn sich viele Parameter gleichzeitig ändern, hat Nicht-Handeln meist einen eigenen, häufig negativen Wert. Im komplexen Raum kann also auch die Option die richtige sein, die zwar nicht positiv ist, aber den geringsten negativen Betrag aufweist.

Guter Umgang mit Unsicherheit und Komplexität als Schüsselkompetenz

Im komplexen Kontext ist es also zunächst ganz wesentlich, die Handlungsfähigkeit zu erhalten, individuell und auch als Organisation. Dieses Handeln muss aber im Bewusstsein erfolgen, dass zum gegebenen Zeitpunkt zumindest (noch) nicht klar ist, was „richtiges" Handeln wäre – denn der komplexe Kontext lässt sich analytisch kaum erschließen. Hier gilt es, durch Intuition und Handeln der sonst drohenden unendlichen Planungsschleife zu entgehen. Dabei sollte dieses Handeln so ausgerichtet werden, dass für den Fall des Scheitern die Lernerfahrung aus diesem Versuch den Einsatz im Sinne von Kosten, Zeit und Ressourcen wert war (Prinzip der „affordable losses" und des konvexen Lernens) – wichtig ist also auch, diese Lernerfahrung entsprechend zu reflektieren.

Unsicherheit und Komplexität, in der Folge der Wegfall von Planungssicherheit und Kontrolle sind Kernmerkmale des Wandels unserer Zeit. In der Vergangenheit jedoch war Kontrollverlust und Unsicherheit häufig ein Indikator dafür, das etwas schief läuft - Daher verbinden wir das eher mit Unwohlsein. Unsicherheit und Kontrollverlust werden aber im digitalen Zeitalter für lange Zeit unsere Begleiter bleiben. Ein guter Umgang mit Unsicherheit und Komplexität, die Fähigkeit, unter Unsicherheit zu entscheiden und handlungsfähig zu bleiben, wird damit eine der Schlüsselkompetenzen unserer Zeit.

Ein Lehrbeispiel dafür, was passiert, wenn man versucht, Herausforderungen in einem komplexen Umfeld mit "klassischen" Managementmethoden zu beherrschen, ist hier beschrieben - des Lehrbeispiel des Berliner Flughafens BER

Prof. Dr. ing. Guido H. Baltes Keynotes - Logo